4.9.06

Baltikum 3: Gauja Nationalpark / Kurland

Nach einer Woche Lettland bin ich im Begriff, meine Reise durch
das Baltikum nordwärts Richtung Estland fortzusetzen. Da es heute
zum ersten Mal den halben Tag lang regnet nutze ich die Gelegenheit
für einen Zwischenbericht.


Gauja Nationalpark

Der Gauja Nationalpark 80 km westlich von Riga umrahmt den Fluss
Gauja. In Lettland ist dieses Gebiet auch als lettische Schweiz bekannt.
Der Begriff ist etwas übertrieben, denn Gletscher oder kahle Gipfel
jenseits der Baumgrenze sucht man hier vergebens (aber die gibts in
der "Holsteinischen Schweiz" ja auch nicht). Streng genommen gibt es
hier auch gar keine Berge im eigentlichen Sinn, sondern nur das Tal
welches der Fluss Gauja in Jahrtausenden durch den weichen Sandstein
gespült hat. Und wenn man runter zum Fluss geht und nach oben schaut,
dann bekommt man wirklich das Gefühl, das es hier so etwas wie Berge
gibt.

Gauja
Fluss Gauja

Neben Fluss und diesen quasibergen gibt es außerdem eine Menge
Wald. Wie es sich für einen ordentlichen Nationalpark gehört. Meistens
Fichten und Birken, vereinzelt auch ein paar Laubbäume. Auch soll es
hier Bären und Luchse geben. Die habe ich in freier Wildbahn aber nicht
vor die Linse bekommen, dafür aber etwas Rotwild. Man gibt sich ja
schon mit wenig zufrieden. Und der Wald hat was Schönheit angeht
mindestens neuseeländisches Format, auch wenn die Farne hier
wesentlich kleiner sind.

Rotwild im Gauja Nationalpark
Rotwild im Gauja Nationalpark

Aber nicht alles was hinkt ist ein Vergleich. Auf schweizerischem Niveau
sind die Preise für eine Unterkunft. Es gibt einfach keine billigen Absteigen.
Am preiswertesten bin ich in Sigulda mit dem gleichnamigen Hotel "Hotel
Sigulda" bedient. Zwar zahle ich mehr für eine Nacht als die letzten drei
Übernachtungen zusammen in Riga. Wie sagt der Schwede Emilio
noch vorgestern so schön: "Beim Urlaub soll man nicht sparen, sondern
Geld spendieren". Es lohnt sich aber: Die teuer erkaufte Privatsphäre auf
großzügigem Raum nutze ich zur Körperpflege und zum
Wäschewaschen. Ebenso gibt es hier die einzige Seilbahn Lettlands welche
einmal über das Flusstal gespannt ist. In Summe hinkt der Vergleich mit der
Schweiz also doch nicht so stark.

Zentrales Element von Sigulda, der Startpunkt des Nationalparks, sind die
Burgen. Im Umkreis von nicht einmal zwei Kilometern stehen fünf
Burganlagen herum, von nicht mehr vorhanden und geschliffen über
Ruine bis hin zu komplett restauriert reicht das Spektrum der Bauzustände
der Burgen. Vielleicht läuft hier deshalb auch eine Gruppe chinesischer
Touristen herum. Die mögen Burgen ja besonders gerne sehen wenn sie auf
Europatrip sind. Sigulda ist so eine prima und preiswerte Alternative zu den
deutschen Burgen an Mosel und Rhein.

Ordensritterburgruine in Sigulda
Ordensritterburgruine in Sigulda

Bevor ich den Park in Richtung Kurland und Ostsee verlasse tauche
ich noch tiefer in ihn ein. In den wenigen Ortschaften, in denen nur
noch eine handvoll Leute wohnen, scheint die Zeit stehen geblieben
zu sein. So als ob die letzte technische Innovation die Erfindung
des Ottomotors oder der Anschluss an das Stromnetz war. Man nimmt
es gelassen schulterzuckend zur Kenntnis und lebt weiter wie hundert
Jahre zuvor, wie immer schon. Ein iPod wirkt in dieser Umgebung fremd,
fast außerirdisch.

Die zumeist alten Menschen die hier wohnen verdienen sich ein Zubrot
zur kargen Rente indem sie selbst angebautes und selbst gesammeltes
(Beeren und Pilze) in Riga auf dem Zentralmarkt verkaufen. Manchmal sieht
man dort auch alte Menschen stehen welche stundenlang darauf warten,
das man ihnen eine Plastiktüte abkauft. Was andere anscheinend
aus Mitleid auch machen.


Reisen in Lettland

Das Zugnetz ist nur sehr rudimentär ausgebaut und zentralistisch auf
Riga zugeschnitten. Das Personal am Rigaer Haupbahnhof ist dafür berühmt,
extrem unfreundlich zu sein. Auf der Suche nach dem Abfahrtsgleis, welches nicht auf den einschlägigen Fahrplänen ausgewiesen ist, werde ich drei Mal von einer Information zur anderen und dann vier Mal zwischen den Kassenhäuschen hin und hergeschickt. Beim vierten Kassenhäuschen wird die Zeit für mich so knapp das ich mich nicht mehr anstelle (und keiner der Wartenden in der Schlange murrt dabei auf). Und diesen Platz verlasse ich erst, als man mir die gewünschte Auskunft erteilt. Tipp für Zugreisende in Lettland: Einfach Passanten (am besten die jüngere, die können alle Englisch) ansprechen, sie helfen gerne und unkompliziert weiter. Ansonsten zahlt sich eine gewisse Hartnäckigkeit aus.

Ein anderes Mal weigert man sich, mir ein Bahnticket von
Riga nach Liepaja zu verkaufen. Vielleicht habe ich auch nur an der falschen
Stelle genickt oder mit dem Kopf geschüttelt? "No Train to Liepaja, we have no"
Die Dame im Kassenhäuschen 5 cm weiter rechts ist ebenso ungewillt.
Mehr Glück habe ich einen weiteren Schalter weiter. Auf die Frage "Vieta?" nicke
ich entschieden mit dem Kopf und bekomme das gewünschte Ticket. Und merke das
Vieta eine Platzreservierung ist. Die benötigt man beim Check-In in die
Züge, ohne setzt man keinen Fuss ins innere. Während der Fahrt werden
Filme gezeigt. Gleichzeitig im Originalton, auf russisch und mit lettischem
Untertitel. Da ist für jeden was dabei. Apropos Kino: Den Film "Thank you
for smoking" habe ich neulich Abend in Riga gesehen, lohnenswert, war sehr
lustig.

Einfacher herum kommt man mit dem Bus. Die fahren häufiger und steuern
auch die kleinen Ecken des Landes an. Dabei sind sie in der Regel sogar
schneller als die Züge, welche immer an jeder Gießkanne halten. Auch wenn
die Busse proppenvoll sind und man für eine Stunde oder länger in einem
VW Bus grossen Gefährt (oft sind die 20 Sitzplätze einfach besetzt) bleiben
die Letten gewohnt gelassen und freundlich. Ein sehr angenehme entspanntes
Volk!

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Busfahrt Liepaja - Riga: Die Letten sind verrueckt nach Schnittblumen, ohne
eine Blume in der Hand wird das Haus gar nicht erst verlassen. Im Busfenster angebracht bringen sie ausserdem Glueck.



Kurland & Liepaja

Der Zug nach Liepaja fährt mitten durch die Region Kurzeme. Auf Deutsch
hat man früher Kurland zu dieser Ecke gesagt. Spontan erinnert es mich
an Schleswig Holstein, nur ohne Windräder und mit Bäumen und Wald.
Letzteres ist in Schleswig Holstein ja eher spärlich vorhanden, der Slogan
"Land der Horizonte" daher aber passend da man ungehindert den Blick
von Ost- zur Nordsee schwenken lassen kann. Hier in Kurland geht das
nicht, da sind einfach zu viele Wälder dazwischen.

Was außerdem auffällt: Überall gibt es Storchennester. Leider zur Zeit
unbesetzt. Stoerche sind hier nichts besonderes. Was passiert wohl,
wenn in Deutschland mal wieder ein Storch gesichtet wird? Erst einmal
wird er einen Namen übergestülpt bekommen Nennen wir ihn den Storch
einfach mal Tiffy. Vielleicht ist Tiffy so unvorsichtig, in der Nähe von Rügen
gesichtet zu werden. Fix hätten wir dann den Probemstorch Tiffy, denn er könnte ja die heimische Vogelwelt mit Geflügel-BSE verseuchen. Schließlich würde Tiffy
abgeknallt. Tiffy sollte also besser hierher nach Lettland kommen, hier ist
genügend viel Platz vorhanden.


Zum Ende des zweiten Weltkriegs habe sich die Letten die ausgedehnten
Wälder der Region genutzt und noch lange gegen die Rote Armee gekämpft. Während
in Berlin schon längst die Kapitulationspapiere unterzeichnet waren gab man hier immer noch nicht auf. Lange konnte man sich der russischen Übermacht und Besatzung
auch nicht entgegenstellen, auch wenn man es versucht hat.

In der alten Hafenstadt Liepaja haben sich die Russen dann erst einmal
ein drittel der Stadt unter den Nagel gerissen. Der Stadtteil Karosta wurde
zu einem Kriegshafen ausgebaut und fast 50 Jahre lang durften nur Angehörige
der Armee diesen abgeschotteten Teil der Stadt betreten. Schon zu Zeiten
des Zars wurde der Hafen zu einem bedeutenden Marinehafen ausgebaut.

Karosta: Ueberbleibsel des zaristischen Militaerhafens
Karosta: Ueberbleibsel des zaristischen Militaerhafens

Wohnsilo (benutzt) in Karosta
Karosta: Wohnsilo (benutzt)

Heute darf jeder hinein. Man findet verlassene Militäranlagen, sowjetische
Mietskasernen, manchmal bewohnt, meistens jedoch leer. Dazwischen eine opulente orthodoxe Kirche mit vergoldeten Türmen. Trostlos und spannend
zugleich. In diesem bewohnten Freilichtmuseum lohnt es sich, über Mauern
zu klettern und auf Entdeckungsreise zu gehen. Lettische Künstler zieht es
hierher, denn Artelies gibts für umsonst - man nimmt sich einfach, was man braucht - und die Atmosphäre hier ist sehr inspirierend.

Touristen können ein ehemaliges Gefängnis für Armeeangehörige besichtigen. Dagegen wirken die Bilder aus Guantanamo wie ein vier Sterne Unterkunft. Im Gegensatz zu Alcatraz ist hier noch niemand geflüchtet. Besonderer Gag
für Besucher: Eine Nacht im Gefängnis verbringen und sich dabei authentisch
zur Sau machen lassen. Mit allen Schikanen, inklusive Schlafentzug. Auch
Rollenspiele ohne Übernachtung sind buchbar.

Ich ziehe das Hotel Fontane vor. Ein Geheimtipp für alle, die mal hierher kommen wollen. Gleich nebenan ein Laden, der zünftige Rockmusik spielt. Die Räume sind thematisch individuell eingerichtet. Ich nächtige im Elvis Presley Zimmer, seine Schmalztolle wacht von den vielen Bildern während ich mich in den goldenen Laken wälze. Auch das Frühstück in diesem Laden ist vom feinsten.

Hotel Fontane in Liepaja: Elvis Presley Zimmer
Hotel Fontane in Liepaja: Elvis Presley Zimmer

Ventspils

Mein Weg führt mich die Küste von Liepaja nach Ventspils hoch. Nimmt man die Küsten
von Litauen im Süden und Estland im Norden hinzu so bieten sich in Summe fast 600 KM durchgängier Sandstrand. Wo sonst in Europa bekommt man das geboten?

Mit 40.000 Einwohner zählt Ventspils immer noch locker zur Top Ten der größten
lettischen Städte. Es ist aber bemerkenswert weniger erschlossen als andere Orte. Eigentlich wollte ich von hier aus mit einem Mietwagen das einsame Kurland erkundigen. Leider kann man anscheinend nur in Riga am Flughafen Autos mieten, sonst nirgendwo im Land. Auch mit Bussen kommt man nur in die nächsten Städten und nicht individuell zu den abgelegenen Dörfern. Auch ist die Touristeninformation ist selten schlecht und wenig hilfsbereit ausgerüstet. Eigentlich wollte ich hier länger bleiben und dann mit einer Fähre nach Saarema, der größten estnischen Insel vor dem Golf von Riga, ruebermachen. Doch die Fähre hat ihren Fährbetrieb bereits gestern eingestellt und verkehrt offensichtlich nur im Sommer.

Schade. Also bleibe ich nur kurz hier und werde morgen über Riga und Eurobus nach Estland einreisen. Als Uebernachungsmoeglichkeit ist das Olympiazentrum ein Geheimtipp. Jedes Zimmer, egal ob mit 1-4 Betten ausgerüstet, ist für spottbillige 18 Euro zu haben. Nebenbei kann man ein paar lettische Spitzensportler Abends bei einem Bier kennenlernen während im Fernsehen das Regionalligaspiel Pauli gegen Union Berlin und die Qualifikationsspiele von Lettland und Deutschland im Fernsehen live gezeigt werden. Ich nutze diese Gelegenheit und
lerne so nebenbei die lettische Meisterin im Rhoenradfahren kennen.

Kontakte anderer Art knüpfe ich heute bei einer Hafentour. Hinter mir auf dem Ausflugsdampfer sitzen Werner und Rainer, zwei jung gebliebene mitsechziger aus dem Ruhrgebiet, die sich in breitem Ruhrpottslang unterhalten und so ihre Herkunft nicht verleugnen. Später treffe ich sie in dem einzigen Restaurant des Ortes
und wir trinken ein paar Bier zusammen. Auch wenn Liepaja und Ventspils nur
150 km Luftlinie auseinander liegen so trennt sie musikalisch doch Welten: Hier in Ventspils gibts nur Bohlen inspirierten Russenpop und ABBA zu hoeren ("No Face, no name, no number" - zuletzt habe ich diesen Mordern Talking Hit am Baikalsee gehoert)

Etwas deprimierend ist der Besuch des lokalen Scandlines Büros. Ventspils wird direkt von einer Fähre von Rostock aus angefahren (ein Weg den auch Rainer und Werner hierher genommen haben). Auch hier ist unsere COAST Software seit kurzem im Einsatz. Die Bedienerin klagt aber über das Manko, nicht jederzeit eine Ladeliste erzeugen zu können. Die Arme hat zwei Rechner an ihrem Arbeitsplatz um die durch geschlichen Vorgaben geforderten Dokumente vor einer Abfahrt von Hand per Excel zu erzeugen (im Hafen in Klaipeda auf litauischer Seite hat man dieses Problem nicht). Noch vor einer Woche habe ich an einer Problemloesung hierfür gearbeitet, leider muss sie sich noch etwas gedulden, bis eine neue COAST-Version ihren langen Weg von Hamburg hierher findet. Wenigstens kann ich ihr zeigen, wie sie mit dem Porthandling-Dialog eine Partie Tetris spielen (CTRL+ALT-T,E,T,R,I,S) und ihre Wartezeit damit verkürzen und kurzweiliger gestalten kann. Außerhalb der Hauptsaison gibt es hier nicht viel zu tun.


Morgen gehts über Riga nach Parnue (Estland) und dann endlich auf die Insel Saarema.

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