23.9.06

Baltikum/Skandinavien 6: Verlaengerung ueber Skandinavien

Da meine Dienste bei der Arbeit zur Zeit nicht dringend benötigt
werden kann ich meinen Urlaub um zwei Wochen verlaengern.
Das ist eine feine Sache, noch in Tallinn habe ich mir daher
eine veraltete Ausgabe des Lonely Planet fuer Skandinavien
besorgt. Sehr billig, aber leider auch nciht sehr aktuell. Was
Schweden angeht geht der Fuehrer zum Beispiel noch davon aus,
das man auch dort bald mit dem Euro zahlen kann, wenn denn
demnaechst einmal ein Volksentscheid zu diesem Thema durchgefuehrt
wird. Waehre sehr schoen gewesen, wenn diese Prognose zugetroffen
haette.


Nachlese Baltikum
Estland ist das erste Land ausserhalb Deutschlands, das
anstaendig Brot machen kann. Schmeckt wie in Deutschland,
nicht nur so ein weisser Labberkram der einem sonst ueberall
vorgesetzt wird. Die Auswahl ist vielleicht nicht so ueppig, aber
immerhin. Beim Warten auf das Essen wird einem so leckeres
Grau oder Schwarbrot zusammen mit Butter serviert. Die
Hauptmahlzeit kann entsprechend kuerzer ausfallen.

Im direkten Vergleich fuehrt Estland vor Lettland, was meine
persoenlichen Pareferenzen angeht. MEstland ist einfach ruhiger, stilvoller, skandinavischer, Lettland im Gegenzug slawischer und preiswerter.

Abschliessend eine Liste der Orte die einen Besuch lohnen fuer diejenigen,
welche demnaechst einmal im Baltikum vorbeischauen moechte:

Tallinn - Schoenste Stadt im gesamten Baltikum, uneingeschraenkt empfehlenswert,
lediglich die Touristenhorden, derer man als Reisender unweigerlich ein Teil von ist,
koennen etwas abschrecken
Liepaja - Klassische Hafenstadt mit Strand, vor allem die Hinterlassenschaften
der roten Armee laden zum entdecken ein
Riga - Nicht ganz so sehenswert wie Tallinn, trotzdem eine Reise wert, eignet sich gut als Einstiegspunkt
fuer eine Reise in die Region
Lahemaa Nationalpark - Natur, Natur, Natur
Sigulda / Gauja Nationalpark - Wer Fluesse und Burgen mag ist mit
diesem Nationalpark vor den Toren Rigas gut bedient
Saareema - Schoene Ostseeinsel mit vielen Sehenswuerdigkeiten
und Wellnessmoeglichkeiten


Von Tallinn nach Finnland

Am letzten Tag in Tallinn gibt es noch einmal Fussball.
Auf das Spiel werde ich aufmerksam, weil sich tagsueber
viele Englaender im Trikot von Newcastle United unter
die ueblichen Touristenmassen gemischt haben. Von
diesen sind sie leicht zu unterscheiden, und ich bringe
den Grund ihres Kommens in Erfahrung: Levandia Tallinn
spielt heute im Uefa Cup gegen Newcastle. Instinktiv
verhalten sich die englischen Fans richtig: Schon seit
zwoelf Uhr morgends stroemen sie in die Irish Pubs
und beginnen, sich zu betrinken. Das Spiel findet erst
sechs Stunden spaeter statt. Vielleicht haben sie geahnt,
das im Stadion kein Bier ausgeschenkt werden darf?

Im Stadion treffe ich Johan aus Helsinki. Fussball ist auch
in Finnland, und dort vor allem der englische, beliebt. Einige
seiner Landsmaenner sind daher fuer das Spiel mit dem
Schiff ruebergekommen und mischen sich unter die Newcastle
Fans. Johan ist erst vor kurzem in Hamburg gewesen. Tickets
fuer die WM hat auch er leider keine bekommen, das Heiligengeistfeld
und auch St.Pauli kennt er jedoch sehr gut.

Das Spiel ist langweilig. Levandia kaempft, kann aber 90 Miunten lang
die Fuehrung fuer Newastle aus der 10. Minute nicht ausgleichen. Ein
1:0 Arbeitssieg fuer Newcastle ist am Ende an der Anzeigentafel
angeschlagen.

Freitag folge ich den Spuren Johans und setze nach Helsinki ueber. Das Schiff
der Faehrgesellschaft "Linda Lines" hoert auf den schoenen Frauennamen "Laura".
Das ist ein gutes Zeichen, denn auf Schiffen mit maennlichen Namen sollte man
nicht fahren. "Wilhelm Gustloff" und "Titanic" - jeder weiss, was dort passierte.

Die Dame bei der Passkontrolle amuesiert sich ueber den Namen meines
Geburtsorts. Ob ich wirklich aus Bielefeld - verkniffenes grinsen - kaeme.
Ich bestaetige, denn es stimmt ja und ist die einzig richtige Antwort auf
perfide Fangfragen wie diese. Die Passkontrollen von und nach Finnland wurden
fuer die Dauer der Ratspraesidentschaft kurzfristig wieder eingefuehrt, es gibt
aber keine Probleme fuer mich beim Grenzuebertritt.

Der Kapitaen der Laura ist ein alter Seebaer im marineblauen Strickpulli,
seinen Bart traegt er in bester Lech Walesa Manier und dazu eine
70er Jahre Pornosonnenbrille. Laura selbst ist ein Tragfluegelboot
und braucht nur eine Stunde fuer den Flug ueber die Bucht nach
Helsinki. Passend dazu waehlt der Zufallsgenerator meines iPod
das Lied "Rocket Queen" aus.

Waehrend der kurzen Ueberfahrt zeigen Fernseher aktuelle Musik
DVDs. Da der DVD Spieler aber nicht mit den Erschuetterungen
des Schiffs wenn es von Welle zu Welle huepft klarkommt werden die
Filme in stroboskopart mit vielen Pausen und Haengern angezeigt.


Helsinki

Finnland ist wie Estland ein Land, in welchem das Erdgeschoss das Stockwerk
mit der Nummer eins ist. Im Billighotel "Fenno" beziehe ich ein Zimmer im vierten
Stock (also im dritten nach deutscher Zaehlart) und kann trotzdem nur auf die
Betonwand des Nebengebaeudes schauen.

Ab und zu, und vor allem an Wochenenden, gönne ich mir den Luxus eines
Einzelzimmers. In den Schlafsälen der Hostels macht man nicht immer
positive Erfahrungen. Es ist billig und man lernt Leute kennen. Damit ist die
Liste der positiven Eigenschaften bereits komplett. Anonsten stinkt es Morgends,
wenn man von der Morgentoilette zurueck kommt, wie in einem Obdachlosenasyl.
Eine Mischung aus Schweiss, dreckigen Klamotten und Alkoholausduenstungen,
denn viele sind zum Feiern hier und fallen mitten in der Nacht unter grossem
Getoese sturzbesoffen ins Bett. Manchmal wird auch vorher das einzige winzige
Fenster des Raums verschlossen. Wird man durch lautes Furzgerauesch wach
so kann man an dessem Geruch leicht auf den Typ des Getraenk schliessen
(meistens Bier, Wein riecht nicht so dumpf). Ein anderes Mal hat man mehr Glueck
mit seinen zufaelligen Zimmergenossen, oder hat sogar die ganze Bude fuer sich
alleine. Ich habe einen recht robusten Schlaf, und fuer den Fall der Faelle habe
ich immer Ohropax dabei. Von Zeit zu Zeit sollte man sich aber auch mit den
Anehmlichkeiten einer Privatssphäre in Form eines Einzelzimmers segnen.

Das man in Skandinavien angekommen ist erkennt man leicht an an den
ersten H&M Filialen im Stadtbild. In der Anzahl leisten sie sich einen
Wettstreit mit schottischen Spezialitaetenrestaurants der Marke
McDonalds. Helsinki ist der Inbegriff von Understatement, bescheiden
protzt es nicht mit Sehenswuerdigkeiten oder grossartigen Gebaeuden.
Alles wirkt sehr sehr leicht, zurueckhaltend und locker. Entsprechend sind
die Finnen gestimmt, immer freundlich, leicht zurueckhaltend zu Beginn, aber
man kommt schnell mit ihnen ins Gespraech. Die Lebenseinstellung der Finnen
ist am ehesten mit denen der Laoten zu vergleichen.

In jeder Stadt findet sich schnell ein Lieblingsplatz, ein Ort an den
man sich wohl fuehlt und stundenlang die Zeit totschlagen kann. In
Helsinki ist dieser Platz schnell mit der Treppe vor dem Dom gefunden.
Die Treppe ist steil wie der Aufgang zu einer Aztekenpyramide und
fuehrt den einzig nennenswerten Huegel der Stadt, gekroent durch
den Dom, hinauf. Von hier habe ich bei bestem Wetter einen
Spitzenausblick ueber den Hafen und die Stadt.

Die Strassenschilder sind zweisprachig in Finnisch und Schwedisch
gehalten. Die Strassen enden also wie in einem Mankellkrimi meistens
auf -gatan. Ein erster Vorgeschmack auf Stockholm. Kaurismäki besitzt
in Helsinki ein Restaurant und eine Kneipe. Besonders die Stimmung
in der Kneipe ist vergleichbar schraeg wie die seiner Filme, also sehr
zu empfehlen.

Auch die Grundversorgung mit deutschen Presseerzeugnissen
ist gesichert. Taeglich ankommende Faehren habe den neuesten
Spiegel oder die Bildzeitung im Gepaeck. "WHO-Bericht enthuellt:
Deutschland sozialistischer als China" weiss die Bildzeitung zu
berichten. Wenn Mao das wuesste wuerde er sich bestimmt im
Grabe (resp. im Mausoleum) umdrehen. Ein gutes Zeichen, denn
dumme Schlagzeilen diese Art sind ein untrueglicher Indikator
dafuer, dass nichts schlimmes in der Welt passiert ist. Wenn der
Bildzeitung mal die Ideen ausgehen sollte: Wie waers mit der
vergleichbar daemlichen Schlagzeile "Meteorologen finden heraus:
Wenn es regnet wird die Erde nass", zu dem Thema koennte man
im Innenteil Topleute wie Joerg Kachelmann interviewen, eine
Telefonumfrage starten oder sogar eine Aufkleberaktion lostreten.
Die finnische Regenbogepresse berichtet zeitgleich von einer
Satanssexparty bei der Gruppe Loordi. Fuer weitere Details zu
diesem pikanten Thema reichen meine Finnischkenntnisse
leider nicht aus.

Im Zoo spricht mich ein Finne an und berichtet in gebrochenem
Deutsch, wie er 1990 Pauli gegen Hertha in Berlin und spaeter
in den 90ern ein Spiel von Pauli gegen Nuernberg im ehrwuerdigen
Millerntor gesehen hat. Beide Spiele sind ihm noch in guter Erinnerung.
Ausserdem kondoliert er zum Vergeigen der Partie gegen Bayern
Muenchen eine Woche zuvor (er hatte das Spiel im Fernsehen
vefolgt). Finnen haben anscheinend einen guten Riecher fuer
Spitzensport.

Abschliessend ist Helsinki so etwas wie ein finnischer Mikrokosmos.
Alles, was es sonst im Land zu sehen gibt, kann man sich hier in
der Stadt schon einmal probeweise anschauen. Am besten laesst sich
die Stadt mit einem Fahrrad erkunden. Der Verleiher gruesst mich
mit "Moin Moin", er hat selbst 12 Jahre in Hamburg gelebt.


Auf dem Weg nach Schweden

Moin Moin ist auch heute noch die gaengige Begruessung in Turku,
der alten Hansestadt und als aelteste Stadt des Landes lange Zeit
Hauptstadt Finnlands. Das Helsinki ihr diesen Rang geklaut hat und
das Turku selbst inzwischen nur noch die drittgroesste Stadt
Finnlands ist nagt stark am Selbstverstaendnis der Stadt.

Von Turku aus setze ich Abends mit der Faehre nach Stockholm
ueber. Turku ist ein toter und langweiliger Platz den man nicht gesehen haben
muss. Tagsueber schlage ich die Zeit in Ermangelung sehenswerter
Attraktionen die Zeit in Cafes und Kneipen tot. Das man hier direkt mit
dem Euro bezahlen kann ist eine feine Sache, sofort springt einem
dabei allerdings ins Auge, wie teuer es ist, hier zu leben - ein
Menue bei Subway kostet mit durchschnittlichen 10 Euro fast doppelt
so viel wie in Deutschland. Johan, den ich in Tallinn traf, hatte mich schon
vorgewarnt. Auch hier hat die neue Waehrung alles ueber Nacht
preislich verdoppelt, vervierfacht also relativ zu deutschem DM Niveau.

Im Gegensatz dazu sind Faehrtickets geradezu verschwenderisch
billig. 15 Euro bezahlt man fuer das billigste Ticket in einer Dreierkabine.
Unter der Woche an einem Montag hat es den Anschein, das nur
schwedische Rentner bereit sind, nach Stockholm ueberzusetzen.
Wie eine Bueffelherde zwaengen sich die Massen bereits eine Stunde
vor der Abfahrt auf das Schiff als sich das Tor zur Gangway öffnet.
Abgesehen vom Schiffspersonal bin ich mit Abstand der juengste
Mitreisende an Bord.

Ein dreiraediger voll motorisierter AOK Chopper parkt Abends direkt
neben der Tanzflaeche auf der die Rentner sich mit immer gleichen
Schritten und im gleichen Takt die nicht gleichbleibende Musik ignorierend
bewegen. Die Einkaufskoerbe der vollmotorisierten Gehhilfe sind
prall mit steuerfrei gekauftem Alkohol, Bier und hoeherprozentiges,
gefuellt. Ein so trostloses Bild, ich gehe daher einfach in meine
Koje und verzichte auf das Abendprogramm.

Auf dem Weg nach Schweden passieren wir mitten in der Nacht die
Insel Åland. Die gehoert zu Finnland, aber auch Schweden erhebt
Ansprueche auf das Eiland. Skandinavisch klug hat meinen keinen
Krieg vom Zaun gebrochen: Åland hat eine eigene Flagge, gibt
eigene Briefmarken heraus und ist offiziell ein autonomes Gebiet.
Eine kluge und weitsichtige Entscheidung, denn so koennen die
Skandinavier das tun was sie am liebsten machen: Steuerfrei
in Unmengen Alkhol bunkern. Der Fahrplan auf der Strecke
Helsinki - Stockholm ist speziell auf dieses Beduerfnis angepasst.

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