14.9.06

Baltikum 5: Tartu and Tallinn

Tartu

Tartu ist die zweitgroesste und aelteste Stadt des Landes. Ausserdem die Stadt
mit der ersten Universitaet des Landes, eine Tradition, welche auch heute noch
fortgesetzt wird. Ca. 20% der Leute dort sind Studenten, was das Nachtleben der
Stadt klar vorgibt. Alle 15 Minuten verbindet ein Bus Tartu mit der 200 km
entfernten Hauptstadt Tallinn. Die erste Stadt in Estlands in der ich bin, welche
keine eigene Kueste zur Ostsee hat.

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Strassenszene in Tartu

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Schiefes Haus in Tartu. Die Esten sind jedoch zu bescheiden, dieses Pfund touristisch auszubeuten wie es die Italiener mit ihrem schiefen Turm in Pisa machen

Ich miete mich billligst im Studentenheim ein. Zentral gelegen, und neben einer
eigenen Nasszelle (die ihren Namen auch wirklich verdient) gibt es sogar einen
Fernseher. Das stellt sich spaeter noch als Segen heraus, denn eingespeist wird
auch das Programm des ZDF. Damit kann ich wenigstens im Fernsehen das Spiel
Pauli gegen Bayern sehen, wenn ich schon nicht vor Ort anwesend bin. An dem Tag
habe ich nach dem Spiel jedenfalls keine grosse Lust mehr auf Party, aber ein
paar Bier sind immer drin.

Die Gebauede der Universitaet befinden sich auf einem Huegel ueber der Altstadt.
Den muss ich also auch hochkrabbeln, wenn ich zurueck zu meiner Unterkunft
moechte, bzw. herunterollen wenn ich in die Altstadt will. mit seinen geschaetzten
100 Meter Hoehe und den steilen Strassen erinnert er mich doch stark an den
Bandelberg zu Detmold. Fuer estnische Verhaeltnisse sind Huegel dieser
Groessenordnung als Alpin zu bezeichnen. Bei gutem Wetter kann man bestimmt
ueber das flache Land bis zur See und ueber das komplette Land schauen, verifizieren
kann ich diese These jedoch nicht, denn das Wetter ist ingesamt sehr schlecht
als ich hier bin.

Typisch Studentisch: Wie in Deutschland so sind auch hier die Studenten fuer die
Auswahl der Nationalfarben zustaendig. Nachdem man eine grosse
Nationalitaetsbesinnung und -bewegung losgetreten hatte (klar: Keimzelle war mal wieder die Uni, altes Revoluzzerpack) viel einem bald ein, das man eine Fahne oder
so etwas braeuchte. Man einigte sich auf die Farben Kornblumenblau, Schwarz und Weiss. Ein Erfolgsmodell das heute noch Bestand hat, jedenfalls mit 50 jaehriger Besetzungspause.

In Tartu selbst haenge ich meistens, wegen des schlechten Wetters, innerhalb von
Gebaueden rum. Das uebliche was man so sehen kann, Museen, alte KGB
Folterwerkstaetten, Kino. Und Abends in Kneipen. Schoen traditionell ist die
Kneipe mit dem Namen Studentische Tugend. Kochen gehoert ganz offensichtlich nicht
zu studentischen Tugenden, die Kueche ist mies. Das Bier und die Gesellschaft machen diesen Nachteil aber mehr als wett.

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Last Man Standing: Bei einem Dorffest schnallt sich jemand ein Holzbein um und die Jungen versuchen, ihn zu Fall zu bringen. Auch heute wird dieser Brauch noch gepflegt und es ist immer ein grosses Hallo wenn es gelingt, jemanden zu Fall zu bringen


Erstligafussball in Estland

Passend zum Fussball wird das Wetter wieder besser. Mit dem FC Levadia ist der
auch nach 20 Spielen noch ungeschlagene Spitzenreiter zu Gast. Waehrend der
Club aus der Hauptstadt die zehn Vereine umfassende Meistriiliga (hoechste
nationale Spielklasse) mit komfortablen 16 Punkten auf der Zielgerade der
Saison anfuehrt und schon einmal fuer die Champions League Qualifikation
planen darf steht Maag Tartu fest betoniert im grauen Mittelfeld der Tabelle
und muss sich dort weder Gedanken um den Klassenerhalt noch um die Meisterschaft machen.

Ausgehend von der Tabellensituation sind die Rollen also klar verteilt. Ich bin
eine Stunde zu frueh im Stadion, denn auf der Kicker Homepage waren die
Anstosszeiten in MESZ aufgefuehrt. In Ermangelung eines Stadions findet das
Spiel in einer Sportanlage statt in welcher sich vor und waehrend der Spiels
die Einheimischen beim sonntaeglichen Bolzen, Tennis, Basketball oder beim
Skaten ueber die asphaltierte 400m Laufbahn um das Spielfeld verlustieren.
So frueh bin ich neben zwei obligatorischen Rentnern und zwei jugendlichen
weiblichen Fans, welche einen Fanschal des Gastklubs sauber gefaltet
auf ihrem Schoss liegen haben, der einzige Zuschauer in der Sportanlage. Das eigentlich auch ein Eintrittsgeld in Hoehe von umgerechnet 2 Euro faellig ist
bemerke ich erst als eine halbe Stunde vor dem Spiel vereinzelt Zuschauer
eintrudeln. Fuer das nachgeloeste Ticket gibt es neben einem zweiseitigen Flyer,
der die Aufstellung und die Werbepartner der Mannschaften vorstellt, auch ein
Los mit welchem man am Ende der Saison einen Jeep gewinnen kann.

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Ueberschaubar wenige Zuschauer verirren sich ins Stadion

Eigentlich stehen die Chancen fuer einen Gewinn ganz gut, denn zu Beginn der Partie
haben sich nur geschaetzte 50 Zuschauer auf die maximal das vierfache fassende mit
groben Brettern belegte Stahlrohrtribuene an der Laengsseite des Spielfelds verirrt.
Vielleicht waeren mehr Zuschauer gekommen, wenn die Spielankuendigung nicht nur im
Stadion, sondern auch in der Stadt plakatiert worden waere? Sicherheitskontrollen am
Eingang gibt es keine, ausserdem gibt es Getraenke oder was zu Beissen nur, wenn man
es sich selbst mitgebracht hat.

In den ersten fuenf Minuten wird Tallinn seiner Favoritenrolle durchaus gerecht, doch
der Anfangselan verpufft schnell. Insgesamt ist das Niveau der Partie, verglichen mit
Deutschland, irgendwo zwischen Verbands- oder Oberliga angesiedelt. Unansehnlich
schieben sich beide Mannschaften den Ball im Mittelfeld zu, ohne jemals in Richtung
des gegnerischen Tors zu marschieren. Durch einen Kontertor in der achten Minute
geht Tallinn dann auch in Fuehrung, diese haelt bis fuenf Minuten vor Schluss als aus
heiterem Himmel der Ausgleichstreffer faellt. In der zweiten Halbzeit macht Tartu einfach dort weiter, womit es vor der Pause angefangen hat: mit dem Toreschiessen.

Bis zehn Minuten vor Schluss haben sie den Vorsprung auf ein sicheres 4:1 erhoeht. Mit den Gedanken schon in der Kabine koennen sie selbst ihr Glueck kaum fassen als Tallinn zur Schlussoffensive uebergeht. Einzig dem Aluminiumpfosten und Latte des Tors ist es zu verdanken, dass zum Schluss der Endstand von 4:2 fuer Tartu auf der manuellen Anzeigentafel angeschlagen ist. Die Zuschauer applaudieren artig und kurz und verlassen die Anlage. Wieso er heute seine erste Saisonniederlage nach 25 Spieltagen eingefahren hat kann der Trainer von Tallinn den zwei anwesenden Journalisten auch nicht schluessig erklaeren.


Tallinn

Neue Woche, neues Glueck. Morgends fahre ich mit dem Bus nach Tallinn. Die
Fahrt dauert zwar nur zwei Stunden, ist aber die Hoelle. Mein Sitz ist kaputt und
so muss ich krampfhaft aufrecht sitzen und kann mich nicht anlehnen. Alle
Plaetze im Bus sind belegt, und dieses Mal bestehen die anderen Fahrgaeste darauf,
die zugewiesenen Plaetze auch einzunehmen. Also sitze ich eingeklemmt und
verkrampft wie ein Affe auf dem Schleifstein und bin froh, als ich in allinn endlich
aus dem Bus plumpse. Luft! Platz! Und vor allem: Bei bestem Wetter mache ich
mich auf den Weg durch die Stadt und beziehe ein Zimmer in einem Hostel, zentral in
der Innenstadt gelegen.

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Tallinn Altstadt

Die Stadt ist atemberaubend und geizt nicht mit ihrem mittelalterlichen
hanseatischen Flair. Enge Gassen, alte Gemaeuer, tausend Kirchen,
Burgberge und Stadtmauern. Am Horizont sind die alten realsozialistischen
Wohnbunker und ein 70er Jahre Funkturm, garantiert zu 100 Prozent aus Beton,
zu erkennen. Der Blick fuehrt ueber den Golf von Helsinki, bis nach Finnlanf kann man
auch von hoher exponierter Stellung aus nicht schauen. Die im 30 Minuten takt
ablegenenden Faehren aller Bauformen und Groesse zeugen aber davon, das es
soweit nicht sein kann. Zur Zeit spielt man ersthaft mit dem Gedanken, aehnlich
dem Kanaltunnel zwischen England und Frankreich einen ca. 80 km langen
Autotunnel nach Helsinki zu bauen. Das ist aber noch weit entfernte Zukunftsmusik.

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Lettinnen sind durch die Bank sehr attraktiv und laufen ausschliesslich in landestypischer Tracht herum. Genau wie in Deutschland, da tragen wir ja auch alle Lederhosen und Dirndl, wenn man den Bildern von der Eroeffnungsfeier der Fussball WM glauben darf.


Vom Tourismusmarkting versteht Estland etwas. Ich habe bisher noch nie so viele
Touristen auf einen Haufen gesehen, und das mitten in der Woche und in der Nebensaison. Am Wochenende toppen die Menschenmassen bestimmt locker Grossveranstaltungen wie Papstbesuche in Deutschland aus dem Stand. Erst nachdem ich mir den Grundriss der Stadt von oben angeschaut habe vleruafe ich mich nicht mehr in diesem Labyrinth. Bei den vielen Attraktionen kann man hier muehelos viele Tage verbringen, langweilig wird es hier nicht so schnell.

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Wer ein geschmackvolles Badehandtuch sucht wird vielleicht auf dem Markt beim Tallinner Bahnhof fuendig


Um Tallinn herum

Ich habe mir eine spritzig orangenen Fiat Punto gemietet. Erst habe ich in
Markus Altekrueger Manier die Autoverleiher per Fuss direkt abgeklappert,
aber ohne Erfolg. Es gab keine billigen Autos, keine die ich morgends frueh
abholen und Abends spaet zureuckbringen konnte. Die hilfreiche
Touristeninformation konnte dann mit einem einfachen Telefongespraech
das Gewuenschte liefern. Fuer 50 Euro wird mir die Karre morgends um
sieben vor das Hostel gestellt, und dort kann ich das Auto einfach am Abend
stehen lassen. Wer demnaechst in Tallinn ein Auto mieten moechte soll
mich einfach ansprechen,

Es wird der bisher schoenste Tag meines Urlaubs. Der Nationalpark ist
50 km oestlich von Talinn. Weg von den Torusitenmassen und der Stadt.
Der Weg alleine ist schon fuer sich lohnenswert. Vorbei an bergehohen
Abraumhalden des Phosphatabbaus, riesigen verlassenen Zementwerken,
vermutlich ist die ganze Sowjetunuion von hier versorgt worden, dem einzigen
estnischen Atomkrafterk vom Typ Tschernobyl. Kilometerlange Fernwaermepipelines
die im Nichts muenden und leck sind. Immer wieder steige ich aus und erkunde die
Ruinen. Dabei muss man aufpassen, laut Reisefuehrer hat sich vor zwei Jahren
jemand an radiotaktiv verstrahleten Ueberesten den Tod geholt. Besonders gefaehrdete
Einrichtungen dieser art werden daher heute speziell bewacht und sind sinnvollerweis
nicht mehr oeffentlich zugaengig. Der Norden Estlands wurde zu Besatzungszeiten
industriell ueberproportional beansprucht.

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Moor im Nationalpark

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Estlands Antwort auf die Niagarafaelle

Dann ploetzlich der Nationalpark. Welch krasser Gegensatz: keine touristenhorden,
Einsamkeit und Stille, Zurueckgelassenes, weite Waelder, Gletschergesteinsbrocken,
Ostsee, risse im Eisernen Vorhang den es nicht mehr gibt, Straende, Fischer bei der
Arbeit, Wasserfaelle, Huegelgraeber, Moore. Die Eindruecke sind zu zahlreich um sie
alle aufzuzaehlen. Und das alles bei bestem Kaiserwetter. Fuer Tallinntouristen ist
eine tageweise Flucht aus der Stadt ein absolutes Highlight! So zentral wie Tallinn
gelegen ist kann man von hier auch bequem das ganze Land erkunden wenn man sich
ein Auto mietet. Je nachdem, was man so am Gaspedal kann.

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Loechriger Eiserner Vorhang> Nicht mehr benutzter Grenzposten an der Ostsee

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