14.9.04

Markus Altekrueger: Bericht aus Irkutsk - Russland III: Entwicklungshilfe zwischen Enten- und Blattfedern

Beim Verfassen meines letzten Berichts habe ich tatsaechlich in einem Internetamt gesessen, das war kein Witz. Wir haben in Ekaterinburg mit seinen 1.5 Mio Einwohnern kein Internetcafe gefunden! Lediglich im Keller des Hauptpostamts, hinter zwei schweren, 1,70m niedrigen Stahltueren befinden sich 3 Arbeitsplaetze, die von einem Operator kontrolliert werden, der die ganze Zeit bei allrussianmodels.com surft und sich die online banking-Passwoerter seiner Kunden zieht. Macht mir schon mal ein paar Schecks klar.

Ansonsten ist Ekaterinburg eine sehr schoene Stadt, die mit ihrem innerstaedtischen See, den vielen Bruecken und praechtigen Haeusern an Hamburg erinnert. Leider lagern in den Straszen 60% der Weltdreckvorkommen, die bei Regen die Stadt in eine einzige Schlammwueste verwandeln. Und da es haeufig regnet, verzichten die S-Klasse-Besteller hier im Vergleich zu den Moskauer Kollegen auf die Option Verdunkelte Fensterscheiben, da Schlamm die Arbeit von Heckenschuetzen effektiver erschwert.

TRANSSIB
Nach dem zarten Huegelkettchen Ural stehen nun Birkenwaelder an. Ich weisz nicht, was ihr zwischen Freitag abend 19:36 Uhr und Montag morgen 04:20 Uhr gemacht habt. Wir sind Bahn gefahren, quer durch Russlands Birkenwaelder mit der Bummelbahn 340, die im Vergleich zu den anderen Transsib-Zuegen 8 Stunden laenger nach Irkutsk braucht. Aber macht ja nix, es gibt ja viel Abwechlungsreiches zu sehen (Birkenwaelder). Das Reisebuero hats verbockt, aber darueber will ich mich an dieser Stelle nicht auslassen (Hals).Aus dem 2 x 1,80 Meter groeszen Abteil bewegt man sich eigentlich nur raus, um auf Toilette zu gehen und um einen Blick in das abstoszende Zugrestaurant mit seinem gelangweilten Personal (die armen Schweine muessen ihr Berufsleben lang durch Birkenwaelder fahren) zu werfen. Da jeder von uns 17 Kilo Tuetensuppen eingepackt hat, muessen wir also nicht mal zum Essen unser Abteil verlassen.Tatsaechlich verbringen wir unsere Zeit auf der 180 x 60 cm groszen Pritsche. Das ganze hat also was von Knast an sich und wir haben, alle Bahnhofsaufenthalte zusammen gerechnet, taeglich eine Stunde Freigang. Wenn wir den Zug dann verlassen, verhalten wir uns wie Tiere in Gefangenschaft, die nach Jahren aus dem Kaefig gelassen werden: Wir steigen aus, bewegen uns in einem Umkreis von max. 10 Metern voellig ziellos und unsicher hin und her und sind froh, wenn wir von der Provodnitsa wieder in den Zug zitiert werden. Zu allem Ueberfluss musste ich mich von der Provodnitsa gleich zu Beginn der Fahrt schuriegeln lassen, hielt ich die Gesetze der Physik auch in den Transsib-Zuegen fuer gueltig und versuchte es erst gar nicht, mein Kopfkissen mit dem Volumen V in den Bezug mit dem Volumen V : 3 zu quetschen. Da die Zugbegleiterin von Naturwissenschaften nicht viel Ahnung hat, schert sie sich einen Dreck darum und hebelt mir nichts dir nichts diese Gesetze aus! Das Ergebnis: Joerg schwoert Stein und Bein, dasz das Fuellmaterial der Kissen Federn sind. Nach meinem Gefuehl kann es sich nur Blattfedern aus dem Fahrwerksbau handeln.Ich bin kurzzeitig etwas nervoes: Das Abteil nebenan beherbergt 2 finstere Gesellen, wie man sie in den schlammueberzogenen S-Klassen vermutet : Der eine verfuegt ueber Oelquellen, was ich an der Menge von Rohoel, welches er sich in die Haare geschmiert hat, zweifelsfrei festmachen kann. Der andere ist ein 2-Meter-Huene, der sich von James Bonds Beisser lediglich im Material seines Zahnersatzes (die Front ist komplett aus Gold) unterscheidet. Waehrend sich Beisser ganz auf seine Kauleiste verlaezst, scheint der Leibwaechter des Oelprinzen der Leistung seines Zahnarztes nicht ganz zu trauen, und verschafft sich mittels einer fetten Wumme weiteren Respekt. Pistolero traegt seine Knarre meist unter e! inem Jackett; aber in der Raucherecke traegt er sie offen mal vorne, mal hinten unterm Guertel. Ich befolge den Rat Joergs und fuehle mich kurzerhand einfach sicherer.

Zwischen Joerg und mir ist ein Richtungsstreit bezueglich der Tuetensuppen entbrannt. Waehrend ich Nudelgerichte bevorzuge (die Nudel ist zweifelsfrei der Mercedes unter den Saettigungsbeilagen), steht Joerg auf schleimige Kartoffelbruehen, wie sie Blinddarmpatienten nach der OP gereicht werden. Ich sehe mich als moralischen Sieger, da die Nudel 6 Kohlenhydrate mehr hat als die Katrtoffel; sowas kann man bei einer Zugfahrt ausrechnen.Weiterer Zeitvertreib: Aus dem Fenster schauen (Birkenwaelder), liegen, Mau Mau, Schach, Panzer- und LKW-Quartett spielen, Titanic-Artikel rezitieren (siehe unten) und dem Mann zuhoeren, der im Nebenabteil seit 2 Zeitzonen schnarcht. Wer eine gebrauchte Garage sucht, wird uebrigens in Krasnojarsk fuendig werden.

Wir sind endlich in Irkutsk angekommen und die Sonne pruegelt mit 30 Grad auf uns ein. Zunaechst erschuettern uns 2 Kulturschocks: Auf dem Markt werden Rucksaecke mit Hansa Rostock- und Karlsruher SC-Emblemen vertickt. Das muss doch nicht sein! Ein weiterer Kulturschock der anderen Art: Mich plagen hier Minderwertigkeitskomplexe, da hier keine Frau kleiner als 1,80 m ist. Aber Irkutsk rockt! Zwar mit grauenhafter russischer Schlagermusik, dafuer aber unter freiem Himmel auf einer Insel. Wir sind zwischendurch zu einem der DJs gegangen und haben eisenharte Rockmucke gefordert. Ganz im Sinne der Voelkerverstaendigung kam man der Bitte umgehend nach und spielte das, was man hier unter Rock versteht: Original verzerrenden, synthesizerlastigen Coverschleim, der von der russischen Schlagersuelze nicht zu unterscheiden ist und bei dem die wasserstoffblondierten Frisurenmonster einfach weitertanzen. Und da hier die alte Gleichung Rockmusik+Haare=Drogen noch Bestand hat, wurde uns kurz darauf ein ganzes Arsenal angeboten. Wir haben die Verbrecher den Behoerden uebergeben.Nach einigen Bieren war ich so aufnahmefaehig wie hiesiges Toilettenpapier und habe gar nicht die Sinnlosigkeit bemerkt, mir eine Telefonnumer aufzuschreiben, haben wir uns doch schon gegenueber sitzend nicht verstaendigen koennen.War also aeuszerst lustig gestern.

Ich habe noch gar nicht erwaehnt, dasz wir uns 2 Fuszballspiele angesehen haben:- WM-Qualifikation Russland - Slowakei, Stadion Dynamo Moskau (1:1)- Spitzenspiel 2. russische Liga: FK Ural Ekaterinburg - Nosta, Stadion Uralmasch (3:1)Beide Spielstaetten haben Ihre Glanzzeit hinter sich und weisen uebereinstimmende Anzeichen tektonischer Verschiebungen auf. Kurven und Geraden verfuegen alle ueber 6 Laufbahnen, wobei die Bahnen der Geraden gegenueber denen der Kurven um 3 Bahnen nach auszen verschoben sind. Vielleicht ist das der Grund, weswegen die russischen 400-Meter-Sprinter nix mehr reiszen.Unserem Auftrag als Entwicklungshelfer nachkommend, haben wir den Ekaterinburgern die Technik des Wechselgesanges beigebrach! t (Joerg: "Uralmasch", ich: "Uralmasch", Joerg: "Uralmasch", ich: "Uralmasch", Joerg: "Uralmasch", ich: "Uralmasch"...­). Man war beeindruckt und dankte uns mit den Worten: "Ein deutscher Unteroffizier gibt niemals auf!". Unsere Message ist also angekommen.Wir haben uns vorgenommen, einen Artikel fuer den Uebersteiger zu schreiben. Vielleicht kriegen wir es auf die Reihe.

Morgen geht's weiter zum Baikalsee. Vielen Dank fuer die schoenen Nachrichten aus der Heimat, die ich die letzten Tage bekommen habe. Sie erfreuen das Herz und erheitern in diesem Entwicklungsland des Laechelns. Aber bitte keine weiteren Luegengeschichten mehr ("Agu stand beim 3:0 nicht im Abseits", also echt)!Forza St. Pauli!

Nur fuer Insider und Interessierte: Unsere Hitparede der 10 besten Titanic-Artikel der vergangenen Jahre- Ingeborg-Sheherezade-Preis (Teppichprosa)- CSU-Promilleliste- Noch erfol! greicher mit Ferris M. Buehler- Rock und Schlager fuer Leukin (akt uelle Ausgabe!)- Titanic holt die WM 2006 nach Deutschland- Das FDP-Wahlkampfteam: Judenfrei und Spasz dabei, Gib endlich Fried, Man!Telefonaktionen:- guenstiges Hackfleisch von British Beef ("Wieviel koennen sie denn liefern?")- Polenstrom- Peter Frey jun. telefoniert seine DVU-Kandidaten ab ("Ihr Arierausweis liegt nicht vor."­)- GEZ-Gebuehrennachforderungen im Osten seit 1970 ("Sie haben doch auch Westfernsehen gesehen, oder etwa nicht?")

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