19.9.04

Markus Altekrueger: Einsichten am Bananenmeer

Sdrassdwuttche!

Zunaechst zwei Nachtraege:

1. Zu dem lustigen Abend auf der Irkutsker Partyinsel: Ich hatte doch tatsaechlich ein Treffen mit einer dieser 1,80-m-Frauen (allerdings in der kompakten 1,68-Ausfuehrung) fuer den folgenden Abend vereinbaren koennen. Am naechsten Morgen fiel mir auf, dasz sie in mein Notizbuch die Uhrzeit 12:10 eingetragen hatte. 12 Uhr 10! Um 12 Uhr 10 fahren Busse ab, meinetwegen kann ab 12 Uhr 10 auch zurueckgeschossen werden, aber um 12 Uhr 10 trifft man sich selbst in Russland nicht. So war es dann auch.

2. Zu Sverdlowsk: Urspruenglich hatte ich Skrupel, dieses heisze Eisen anzupacken. Aber da Joerg es in seinen Reiseberichten (www.doelfer.blogspot.com) selber thematisiert, wische ich meine Bedenken kurzerhand hinfort.Unmittelbar vor unserer Ausreise aus Sverdlowsk hat Joerg die Toilette aufgesucht und fand am Bahnhof die asiatische Version des Plumpsklos vor. Ob es auf fehlende Erfahrung, mangelnde Konzentration oder einfach dilettantische Koerperbeherrschung zurueck zu fuehren ist, muessen Experten klaeren. Kurz gesagt: Joerg hat die Waende der Sverdlowsker Bahnhofstoilette groszflaechig vollgeschissen. Das ist das Wunder, das wir Leben nennen.

Nun weiter zu brandaktuellen Russlandthemen. Die Arten der Umweltverschmutzung in Russland sind vielfaeltig. Es beginnt damit, dasz die Russen ihren Muell genau da liegen lassen, wo er anfaellt. “Ach schmeisz doch hin, is eh alles scheisse!” Ganz egal, ob es auf den Straszen und in den Parks der Staedte ist oder auf Wanderwegen, an Straenden und in Naturschutzgebieten; der Russe nimmt’s Leben leicht und unbeschwert, allerdings nur beim Umgang mit seinem Abfall. Weiterhin verweise ich auf die musikalische Umweltverschmutzung, der ich mich unten widme.


Baikalsee

Wir haben am Mittwoch mit einem Tragfluegelboot der wahrlich legendaeren sowjetischen Raketa-Klasse von Irkutsk nach Listvyanka am Baikalsee transferiert. Die 60 Kilometer lange Fahrt auf dem Angara-Fluss hat mit diesem formidablen Gefaehrt gerade mal 1 Stunde gedauert. Und obwohl ich mich in der Materie auskenne, ist mir ein aehnliches Produkt aus dem Westen nicht bekannt. Dasz die Raketa kein Exportschlager wurde, kann nur an der von Funktionaersfeder gezeichneten, geschmacklosen Gardine liegen, die die haessliche Fratze des Kommunismus in ihren Maschen traegt.

Apropos Exportschlager, hier Deutsche, die die Welt nicht braucht: DER DIETER BOHLEN-SOUND Einer der Container, die Tag fuer Tag zu Hunderten mit Dieter Bohlen-Sound beladen den Hamburger Hafen in alle Himmelsrichtungen verlassen, hat den Weg nach Irkutsk gefunden. Die frisch eingetroffene Ware wird hier in dunklen Kellerspelunken fernab jeder Zugriffsmoeglichkeit der Exekutive auf minderwertigen, landestypischen Schlagergesang geschraubt. Das fertige Produkt wird anschlieszend ueber Lautsprecher auf alle Orte des oeffentlichen Lebens verteilt: Maerkte, Wartehallen, Bahnhofsvorplaetze, Restaurants, Hotellobbies, Fuszgaengerzonen, Busse, Bahnen und Faehren. Und sind die Nachschubwege wegen Eisganges auf den russischen Fluessen mal blockiert, holt man sich aus dem Ersatzteilelager nicht minder abschreckende Substitute wie C.C. Catch und DJ Bobo. Mein Aufruf geht an Kofi Annan, meinetwegen auch an George W. Bush: Schicken Sie schleunigst Truppen nach Toetensen und befreien Sie unsere Welt von dieser globalen Geiszel!

Unser musikalisches Kontrastprogramm schnitzen wir uns selber. Am ruhigen Baikalsee wandern wir Tag ein Tag aus und traellern in guter alter Tradition Wanderlieder. Erstaunt stellen wir fest, dasz wir die Texte der kompletten Discographie von Nicole lueckenlos beherrschen ("Ein biszchen Frieden", "Flieg nicht so hoch mein kleiner Freund" etc.) und uns faellt auf, dasz die Geschichtsschreibung der letzten Dekade Nicoles Verdienste um die deutsche Einheit voellig unter den Teppich gekehrt hat! Waehrend die ganze Welt (und insbesondere David Hasselhoff selbst) felsenfest davon ueberzeugt ist, dasz der Titel Looking for Freedom die Mauer erst zum Einstuerzen brachte, finden sich in Nicoles Schlagern die eigentlichen Gruende dafuer, dass die Buerger im Ostblock den Mut fanden, Ihre kommunistischen Regime weg zu fegen. Hier eine Textprobe aus Nicoles Lied Papillon:

[…]
Papillon-Papillon-Papillon,
flieg mit all meiner Liebe davon,
trag den Funken der Hoffnung
in jedes Herz hinein,
lass die Menschen wieder frei und froehlich sein.

Papillon-Papillon-Papillon,
ich waer gern so wie du Papillon,
denn du fliegst ueber Grenzen und Mauern mit dem Wind,
und du schaffst es, dass wir alle gluecklich sind.

[…]

Ist es da nicht zu verstaendlich, dasz Nicole ob der Geringschaetzung Ihres Lebenswerkes an der Flasche haengt? Die Welt waere eine bessere, saengen in den Krieg ziehende Soldaten nicht ihre martialischen Maersche sondern Nicoles friedvollen Lieder. Eigentlich weare schon wieder ein Aufruf an Kofi Annan, meinetwegen auch an George W. Bush faellig, aber die sollen sich erstmal um das Hauptuebel kuemmern.

Die untergehende Sonne laeszt den Baikalsse in all den Goldtoenen erstrahlen, wie wir sie von der russischen Zahnersatzindustrie kennen. In dieser weichgespuelten Atmosphaere halten wir inne und sammeln zum Ausgleich knueppelharte Fakten:- Der Baikalsee ist das groeszte Sueszwasserbecken der Erde.- Der Baikalsee ist der tiefste See der Welt (bis 1637 Meter).- Im Baikalsee schlummern 20% der weltweiten Suesswasserreserven.- Der Baikalsee ist der aelteste See der Welt.- Der Baikalsee ist das bananenfoermigste Gewaesser der Welt. Selbst ausgereifte europaeische Spitzenprodukte wie der Wolfgangsee koennen da nicht mithalten.An seinen Ufern prallt mediterrane Leichtigkeit auf Bednarz’sche Schwere. Sanfte Huegel, baumbewachsene Felswaende, verlassene Werftanlagen, aus Bauschutt und –resten zusammen geschusterte Haeuser, havarierte Boote und Schiffe am Strand, verrostende und verrottende Schiffe im verlassenen Hafen. Wer dies hier im Kleinen gesehen hat, den muss angesichts der vergammelnden russischen atomaren Ueber- und Unterwasserflotte in Murmansk und Wladiwostok das Schaudern packen.

In Listvyanka am Baikalsee wohnen wir bei einer Gastfamilie. Ich lasse mich gar nicht darueber aus, wie die Bude aussieht, erwaehne aber, dasz russische Schulkinder ein spezifisches Problem haben, das in Westeuropa voellig unbekannt ist: Das Toilettenpapier hat keine innere Papprolle! Ich erinnere mich an meine Kindheit und an das Fach Kunst/Textiles Gestalten. Da war ja nun kein Auftrag bei, der nicht unter Verwendung von Papprollen vom Toilettenpapier zu erfuellen war. Stellt man der heranwachsenden Jugend seines Landes dieses Rohmaterial nicht zur Verfuegung, scheitert sie und so wird klar, warum Russland bei dieser Bildungsmisere den wirtschaftlichen Anschlusz verliert.

Joerg hat in irgendeiner Form auch den Anschlusz verloren und macht mir Sorgen. Seitdem er im Baikalsee gebadet hat, fantasiert er davon, sich in Farkas S. Lumumba umzubenennen und eine Sekte zu gruenden. Kann das in Nuernberg bei Gelegenheit bitte analysiert werden?

Planwirtschaft und Zentralismus

Die Organisation von Bus-, Bahn- und Faehrenfahrten hat hier ihre Tuecken. Ausgehaengte Fahrplaene gelten nicht: “Aber auf dem Plan steht…” wird mit einem “Ach was der Plan, der haengt da doch schon ewig!”ausgekontert. Offenbar haben mit dem Ende des Wirtschaftssystems Planwirtschaft auch alle Plaene an sich ihre Gueltigkeit verloren. So passiert es, dasz man nach 6-stuendiger Wanderschaft zum abgelegenen Kuestendorf ohne Straszenabindung erst vor Ort erfaehrt, ob man von der Regelfaehre, Christoph 11 oder – wie im vorliegenden Falle gekuendigter ADAC-Mitgliedschaft – von amerikanischen GIs (“Halt durch, die Hubschrauber kommen gleich”) rausgeholt wird. Dann ergeht ein Aufruf an George W., aber erst, sobald er die o.g. Punkte abgearbeitet hat …Ist die Planwirtschaft in Russland zwar mit Stumpf und Stiel ausgerottet, so hat man sich wenigstens den Zentralismus bewahrt: Genaue Auskuenfte zu den Fahrzeiten und ob man sich seitens des Anbieters ueberhaupt bequemt, diese einzuhalten, kann ausschlieszlich das Buero im 70 Kilometer entfernten Irkutsk geben, vorausgesetzt da ist jemand. Das kann so nicht weitergehen, wie den Russen selber aufgefallen ist, und so faengt man wieder von der Pike auf an. Linienbusfahrten muessen im Voraus angemeldet und Tickets im Zentralbuero besorgt werden. Dasz das auch fuer eventuelles Gepaeck noetig ist, erlaeutert einem erst der erzuernte Busfahrer, der unablaessig unser nicht vorhandenen Gepaeckbillet fordert. Das zieht eine empfindliche Nachzahlung mit sich, die meine letzten Devisenreste am Tag vor unserer Abreise unerwartet wie das Eis in der Sonne schmelzen lassen. Ja, heute ist unser letzter Tag in Russland und wir haben seit dem 01. September nicht einen Schluck Wodka zu uns genommen! Sofern wir das die kommenden 9 Stunden ueberstehen, sind wir die ersten Menschen, die einen kompletten Russlandaufenthalt durchgestanden haben, ohne das vorgefundene Grauen mit Wodka ertraeglich zu saufen. Das Guinnes-Buch der Rekorde muss neu geschrieben werden! Diesen Erfolg werden wir mit einer zuenftigen Flasche Wodka morgen in der Mongolei begieszen. Spannend wird die Zollkontrolle bei Ausreise aus Russland (ich verweise auf meinen ersten Bericht): Ich beabsichtige, illegal 60 Euro auszer Landes zu schmuggeln. Wenn ich mich auf diesem Wege nicht binnen einer Woche gemeldet habe, wendet Euch an amnesty international. Abschlieszende Erkenntnis zu diesem Land: Floristerei ist des Russen starke Seite nicht.

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